Ausgesprochen Alt. Der Antike Podcast

Folge 13: Buchstabensuppe – Griechische Inschriften mit Julian Schneider

Fabiola ist Archäologin, Max ist Numismatiker. Was beide nicht sind: Epigraphiker*in. Aber zum Glück ist ihr Freund Julian Schneider eben so einer. Er beschäftigt sich wissenschaftlich mit griechischen Inschriften, liest, ergänzt und übersetzt diese steinernen Zeugnisse des antiken Alltags. Wieso ihn Inschriften faszinieren, Buchstaben vielleicht doch gar nicht so blöd sind und man nur an Fragmenten wahre Meister*innen erkennt, verrät er uns in seinem zweiten Gastauftritt.

Folge 13 von Ausgesprochen Alt.

Über diese Quellen sprechen wir diese Folge:

Nestorbecher

Inschrift auf ostgriechischem, geometrischen Skyphos, gefunden 1954 in der Nekropole von Aenaria (Pithekussai) auf der italienischen Insel Ischia; chalkidisches Alphabet, linksläufig. Datierung: wohl spätes 8. Jahrhundert v. Chr. (?). Transkription nach SEG 26.1144:

←         Νέστορός ∶ ε̣[. .]ι̣̣ ∶ εὔποτ[ον] ∶ ποτέριον.                  Iambischer Trimeter (?)
hòς δ᾽ ἂν το͂δε πίεσι ∶ ποτερί[ο] ∶ αὐτίκα κε͂νον                    Daktylische Hexameter
ℎίμερος ℎαιρέσει ∶ καλλιστε̣[φά]νο ∶ Ἀφροδίτες.     Daktylische Hexameter

Ergänzung Z. 1 (zumeist) entweder ε̣[ἰμ]ι̣, ἐ̣[στ]ι̣, oder ἐ̣͂[ν τ]ι̣, daneben zahlreiche andere Vorschläge (siehe z. B. SEG 61.768).

Des Nestor Becher [gab’s einmal (oder: bin ich)], aus dem sich gut trinken ließ (oder: lässt). | Wer immer aber aus diesem Becher trinkt, den wird sogleich | Verlangen ergreifen (nach ?) der schön bekränzten Aphrodite. (Leicht angepasste Übersetzung nach W. Pfohl und HGIÜ). Zu den verschiedenen Interpretationen jüngst: M. Steinhart, Zwei “Becher des Nestor” und der Zauber der Aphrodite, Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 36, 2012, S. 7–37 (referiert in SEG 62.711) und P. von Möllendorff, Es war einmal … ein Becher des Nestor. Probleme von Intertextualität und Intermedialität am Beispiel des Skyphos von Ischia, in: U. Egelhaaf-Gaiser, D. Pausch, M. Rühl (Hrsg.), Kultur der Antike. Transdisziplinäres Arbeiten in den Altertumswissenschaften, Berlin 2011, S. 413–433.
Der Nestorbecher in Inschriftensammlungen (mit Übersetzung): Steinhart 2017, 34–35 Nr. 2; HGIÜ I Nr. 1; Pfohl 1980, S. 10–11 Nr. 2.

Nestorbecher von Pithekoussai, Ischia
Nestorbecher von Pithekoussai, Ischia
Nestorbecher von Pithekoussai, Ischia Nestorbecher von Pithekoussai, Ischia

Mögliche Anspielung auf den bei Homer (Ilias 11,632–643) erwähnten Prunkbecher des Nestor, der bei einer Zusammenkunft in dessen Zelt vor Troia beschrieben und zum Trank benutzt wird:

Auch den stattlichen Kelch, den der Alte gebracht aus der Heimat,
reich mit goldenen Buckeln geschmückt; es waren der Henkel
vier am Becher, ein Paar von goldenen pickenden Tauben
rings um jeden und zwei der tragenden Stützen darunter.
Mühsam hob ein anderer den schweren Kelch von der Tafel,
war er gefüllt, doch Nestor, der Greis, erhob ihn im Spiele.
Hierin mengte die Frau (gemeint: die Dienerin Hekamede), von Ansehn gleich einer Göttin,
pramnischen Wein für die Männer und rieb mit eherner Raspel
Ziegenkäse darauf, mit weißem Mehl ihn bestreuend,
nötigte dann zum Trank des zubereiteten Muses
beide, nachdem sie (gemeint: Nestor und Machaon) den brennenden Durst gelöscht mit dem Trunke,
freuten sich nun des Gesprächs und redeten untereinander, etc.

Homer, Ilias 11,632–643. Übersetzung nach: Homer, Ilias. Griechisch-deutsch übertragen von Hans Rupé mit Urtext, Anhang und Registern, Berlin 162013. Darüber hinaus wird bisweilen ein Bezug auf ein Zitat der Kyprien bei Athenaios (35 c) vermutet.
Grabmal des Dexileos

Große Stele mit Relief und einer Inschrift auf dem Sockel, in situ gefunden 1863 im Athener Kerameikos ausserhalb des Dipylon-Torso. Datierung 394/3 v. Chr. Transkription nach IG II2 6217 (dazu https://www.atticinscriptions.com/inscription/IGII2/6217):

Δεξίλεως Λυσανίο Θορίκιος,
ἐγένετο ἐπὶ Τεισάνδρο ἄρχοντος,
ἀπέθανε ἐπ’ Εὐβολίδο
ἐγ Κορίνθωι τῶν πέντε ἱππέων.

Dexileos, der Sohn des Lysanias aus dem Demos Thorikos,
geboren unter dem Archon Teisandros (414/3 v. Chr.),
gestorben unter dem Archon Euboulides (394/3 v. Chr.)
in Korinth (als einer) der fünf Kavalleristen.
(Übersetzung J. G. Schneider)

Derselbe Dexileos ist zudem in der entsprechenden Liste der im korinthischen Krieg gefallenen Athener (IG II2 5222, ebenfalls 394/3 v. Chr., col. 5 Z. 2) bezeugt. Dexileos starb im frühen Sommer 394 v. Chr. im zweiten Jahr des korinthischen Krieges zwischen Sparta und einer Allianz von Athen, Theben, Korinth und Argos im Alter von 20 Jahren.

Das Leidener Klammernsystem

Konvention textkritischer Editionszeichen, insbesondere in Bezug auf die Klammersetzung, beschlossen 1931 auf dem Altorientalistenkongress und seither für die Editionen dokumentarischer Quellen (Inschriften, Papyri, Ostraka etc.) angewendet wird.

[αβγδ]              Buchstabe(n) nicht erhalten, vorgeschlagene Ergänzung durch Herausgeber
{αβγδ}            Fälschlich geschrieben und daher überflüssige Buchstaben, die aber noch eindeutig lesbar sind, vom Herausgeber ersatzlos getilgt
<αβγδ>           (1) Fehlerhafte Buchstaben, etwa durch Schreibfehler, vom Herausgeber ‘korrigiert’
                        (2) Fälschlich ausgelassene Buchstaben, vom Herausgeber hinzugefügt
αβ(γδ)             Abkürzungen, vom Herausgeber aufgelöst
⟦αβγ⟧              Nachträglich bewusst getilgte Buchstaben (sog. Rasur, z. B. zur Korrektur von Fehlern durch den Steinmetz oder etwa bei damnatio memoriae)
α̣β̣γ̣                  Buchstaben, die nicht vollständig erhalten sind und daher nicht sicher zu lesen sind
[ . . . ]               Textlücke, für die keine Ergänzung vorgeschlagen wird; vermutete Anzahl nicht erhaltener Buchstaben = Anzahl Punkte
[ – – – ]           Textlücke, für die keine Ergänzung vorgeschlagen wird; Anzahl nicht erhaltener Buchstaben bleibt unbekannt
vacat oder v       Bewusst freigelassener Raum in einer Zeile, bei einzelnem v etwa eine Buchstabenbreite, bei ganzen Zeilen oder Zeilenenden vacat

Zur Geschichte des Klammersystems und den zusätzlichen, in der lateinischen Epigraphik gebrauchten Zeichen

Besprochene Literatur:

  • E. Badian, History from ‘Square Brackets’, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 79, 1989, 59–70.
  • R. MacMullen, The Epigraphic Habit in the Roman Empire, American Journal of Philology 103/3, 1982, 233-246.
  • E. A. Meyer, Explaining the Epigraphic Habit in the Roman Empire: The Evidence of Epitaphs, Journal of Roman Studies 80, 1990, 74–96.

Wichtige Inschriftencorpora und Nachschlagewerke:

  • Inscriptiones Graecae (IG), Berlin 1873–heute. (Online)
  • Inschriften griechischer Städte aus Kleinasien (IGSK oder IK), Köln 1972–heute.
  • Tituli Asiae Minoris (TAM), London 1928–heute.
  • Monumenta Asiae Minoris Antiqua (MAMA), Wien 1901–heute.
  • Lexicon of Greek Personal Names (LGPN), Oxford 1987–heute. (Online)

Epigraphische Zeitschriften:

  • Supplementum Epigraphicum Graecum (SEG), 1923–heute: Jährlicher Überblick (mit ca. 4 Jahren Verzögerung) aller Neupublikationen und Diskussionen griechischer Inschriften inkl. Transkription und kritischem Apparat; bis 1976 auf Lateinisch verfasst, seither Englisch.
  • Bulletin Épigraphique (BE) in der Revue des études grecques (REG), 1913–heute: Jährlicher Überblick (mit ca. 2–3 Jahren Verzögerung) griechischer Inschriften in Auswahl mit kurzen Inhaltsangaben, keine vollständige Transkriptionen; lange von J. und L. Robert herausgegeben, jetzt Autorenkollektiv; auf Französisch.
  • L’Année Épigraphique. Revue des publications épigraphiques relatives à l’antiquité romaine (AE), 1888–heute: Jährlicher Überblick (mit ca. 3 Jahren Verzögerung) über Neupublikationen und Diskussionen ‘römischer’ Inschriften, d. h. hauptsächlich lateinische Texte; enthält auch griechische Texte, die im engeren Sinne mit Rom und dem Imperium Romanum zusammenhängen; auf Französisch.

Einführende Literatur und Handbücher:

  • G. Pfohl (Hrsg.), Das Studium der griechischen Epigraphik, Darmstadt 1977.
  • G. Klaffenbach, Griechische Epigraphik, Göttingen 21966.
  • L. Robert, Die Epigraphik der klassischen Welt, Bonn 1970. [Deutsche Übersetzung durch H. Engelmann von: L. Robert, L’épigraphie, in: Encyclopédie de la Pléiade. L’histoire et ses méthodes, Paris 1961, 453–497.
  • K. Hallof, Inschriften II. Griechisch, DNP 5, 1998, 1011–1014.
  • Th. Corsten, Inschriftenkunde, griechische, DNP 14, 2000, 588–614.
  • B. H. McLean, An Introduction to Greek Epigraphy of the Hellenistic and Roman Periods from Alexander the Great Down to the Reign of Constantine, Ann Arbor 2002.
  • M. Guarducci, Epigrafia Greca, Rom 1967–1978.
  • M. Guarducci, L’Epigrafia Greca dalle origini al tardo impero, Rom 1987.
  • W. Larfeld, Handbuch der griechischen Epigraphik (2 Bände), Leipzig 1902 und 1907.
  • A.G. Woodhead, The Study of Greek Inscriptions, Cambridge 21981.
  • C. Cooper (Hrsg.), Epigraphy and the Greek Historian (Phoenix Supplementary Volume 47), Toronto 2008.
  • J. Bodel (Hrsg.), Epigraphic Evidence. Ancient History from Inscriptions, London/New York 2001.
  • F. Bérard, D. Feissel, N. Laubry, P. Petitmengin, D. Rousset, M. Sève, Guide de l’épigraphiste, Paris 42010.

Einzelne Inschriftensammlungen mit Übersetzungen

  • M. Steinhart, Griechische Inschriften als Zeugnisse der Kulturgeschichte, Berlin/Boston 2017.
  • G. Pfohl, Griechische Inschriften als Zeugnisse des privaten und öffentlichen Lebens, Berlin/Boston 21980.
  • W. Peek, Griechische Grabgedichte, griechisch und deutsch, Berlin 1960.
  • K. Brodersen, W. Günther, H. H. Schmitt, Historische griechische Inschriften in Übersetzung I–III, Darmstadt 1992–1999. [HGIÜ, 3 Bände]
  • R. Osborne, P. J. Rhodes, Greek Historical Inscriptions 478–404 BC, Oxford 2017.
  • R. Osborne, P. J. Rhodes, Greek Historical Inscriptions 404–323 BC, Oxford 2003.

Online Ressources

Bildquellen:

2 Kommentare

  1. Das ist ein sehr interessanter Artikel zum Thema Inschriften. Ich habe mir schon einige Beiträge dazu durchgelesen.

    1. Danke für dein Feedback – wir freuen uns sehr, dass dich das Thema interessiert. Liebe Grüße, Max & Fabiola

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